Kann sich der Fokus beim Abblenden verschieben?
Der Autofokus von Spiegelreflexkameras stellt stets bei offener Blende scharf, und auch wenn man die Entfernung manuell wählt, orientiert man sich am hellen Sucherbild bei offener Blende. Die große Blende sorgt für eine geringe Schärfentiefe, wodurch sich eine „springende Schärfe“ einstellt, die eine sichere Fokussierung erleichtert. Erst kurz bevor sich der Verschluss öffnet, blendet die Kamera auf den automatisch oder manuell vorgewählten Wert ab. Nachdem das Motiv bei offener Blende scharfgestellt ist, sollte man nicht erwarten, dass sich beim Abblenden etwas daran ändert, zumal ja die kleinere Blende die Schärfentiefe vergrößert. Dennoch kann sich die Schärfe bei einigen Objektiven verschieben, sodass nach dem Abblenden weiter hinten liegende (manchmal aber auch nähere Motive) scharf abgebildet werden.
Sphärische Aberration
Diese Fokusverschiebung ist seit langem bekannt; sie wird – etwas missverständlich – auch als „Blendendifferenz“ bezeichnet. Eine Verschiebung der Schärfenebene nach hinten stellt sich immer dann ein, wenn die sphärische Aberration des Objektivs nicht vollständig korrigiert ist; eine Überkorrektur erzeugt dagegen eine Fokusverschiebung in umgekehrter Richtung.
Eine sphärische, also kugelförmig geschliffene Linse bricht nahe dem Rand einfallende Lichtstrahlen stärker als solche, die nahe der Linsenmitte auf sie treffen. Parallele Lichtstrahlen vereinigen sich nicht in einem einzigen Brennpunkt, sondern in unterschiedlichen Punkten, je nachdem, wie weit sie von der optischen Achse entfernt sind. Diese sphärische Aberration bewirkt, dass ein scharfes Bild immer von unscharfen Bildern überlagert wird. Bei Weichzeichnerobjektiven nutzt man diesen Effekt aus und lässt die sphärische Aberration absichtlich bestehen, aber normalerweise versuchen die Objektivhersteller, den Abbildungsfehler durch die Kombination von Linsen unterschiedlicher Glassorten oder durch asphärische Elemente möglichst weitgehend zu korrigieren. Dennoch bleibt auch bei gewöhnlichen Objektiven durchweg ein mehr oder minder großer Rest der sphärischen Aberration, den man nur noch durch Abblenden weiter reduzieren kann.
Hinter einem Objektiv mit einem Rest an sphärischer Aberration vereinigen sich die Lichtstrahlen zwar nicht in einem Brennpunkt, aber es gibt eine Ebene, in der das Strahlenbündel den geringsten Durchmesser hat, und das ist die Ebene, in der das schärfste Bild entsteht. Wenn man nun die Blende schrittweise schließt, bleiben immer mehr Randstrahlen von der Bildentstehung ausgeschlossen, und das verbleibende Strahlenbündel läuft zu einer immer kleineren Engstelle zusammen, deren Position sich gleichzeitig verschiebt: Je kleiner die Blende, desto weiter rückt das scharfe Bild von der Linse weg. Anders gesagt: Die Entfernung, in der ein Motiv scharf abgebildet wird, wächst.
Je weiter man ein Objektiv mit unterkorrigierter sphärischen Aberration abblendet, desto weiter verschiebt sich die Ebene, in der das schärfste Bild entsteht
Wenn die sphärischer Aberration aber sogar überkorrigiert ist, so tritt der umgekehrte Effekt ein und die Ebene des schärfsten Bildes rückt immer näher an das Objektiv heran, je stärker man abblendet. Das Objektiv bildet dann immer näher liegende Motive scharf ab. Meist ist dieser Effekt klein genug, um von der größeren Schärfentiefe bei kleineren Blenden aufgefangen zu werden, aber in ungünstigeren Fällen muss man die Fokusverschiebung korrigieren.
Für eine selbsttätige Korrektur muss die Kamera den Objektivtyp, die Blende und die eingestellte Entfernung kennen, um die zu erwartende Verschiebung zu berechnen und durch einen Eingriff in die Fokussierung zu korrigieren. Einige Kamerahersteller haben eine automatische Korrektur in ihren Autofokussystemen realisiert, so beispielsweise Hasselblad bei den DSLRs seiner H-Serie. Sofern man eine DSLR manuell fokussiert, kann man auch die Abblendtaste benutzen, um mit der Arbeitsblende zu fokussieren, aber das verbleibende Licht wird möglicherweise nicht ausreichen, um die Schärfe anhand des Mattscheibenbilds zu beurteilen. Noch schwieriger ist die Fokuskorrektur bei Messsucherkameras wie einer Leica M, deren Entfernungsmesser ein unabhängiges optisches System ist, auf das sich die Blende gar nicht auswirkt. Bei diesem Kameratyp bleibt nur, sich mit den Eigenheiten der verwendeten Objektive experimentell vertraut zu machen und die Entfernungseinstellung aufgrund von Erfahrungswerten zu korrigieren.