Harold M. Merklingers Sicht der Schärfentiefe
In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Harold M. Merklinger einen alternativen Ansatz zur Betrachtung der Schärfentiefe, den er in einer Serie von Artikeln im „Shutterbug“-Magazin beschrieb; zusammengefasst kann man sie in „The Ins and Outs of Focus“ nachlesen. Die traditionelle Sicht auf die Schärfentiefe dreht sich um das Bild und die Schärfe der Abbildung – genauer gesagt um den Unschärfekreis, als der ein Punkt des Motivs abgebildet wird, der vor oder hinter der fokussierten Entfernung liegt:
Wenn dieser Unschärfekreis kleiner als ein vorgegebenes akzeptables Maximum bleibt, gilt die Abbildung noch als scharf; die jeweilige Entfernung liegt damit noch innerhalb der Schärfentiefe.
Merklinger drehte diese Sichtweise um und betrachtete statt der Schärfe des Bildes die Auflösung im Motivbereich. Wie groß muss ein Motivdetail in einer bestimmten Entfernung sein, damit es noch aufgelöst wird, obwohl man auf eine andere Distanz fokussiert hat:
Wie es sich herausstellte, sind die Berechnungen dazu viel einfacher als die traditionellen Formeln für die Schärfentiefe. Außerdem muss man dafür nicht die Sensorgröße kennen und genau genommen nicht einmal die Brennweite.
Die Auflösungsberechnung nach Merklinger
Man kann sich die Auflösung eines Fotos so veranschaulichen, dass aus dem Objektiv ein Abtaststrahl ausgeht. Der Durchmesser dieses Strahls, mit dem er auf ein Motiv trifft, ist die Größe der aufgelösten Details.
Der einfachste Fall ist die Fokussierung auf unendlich: Der Abtaststrahl ist dann gebündelt wie ein Laserstrahl und hat den Durchmesser der Eintrittspupille, also der Brennweite, geteilt durch den Blendenwert:
Unabhängig von der Entfernung, von der Frontlinse bis unendlich, werden dann Details von der Größe der Eintrittspupille aufgelöst. Bei einer Brennweite von 50 mm und Blende 16 wären das 50 mm / 16 = 3,1 mm.
Fokussiert man dagegen auf eine bestimmte Entfernung, so nimmt der Abtaststrahl die Form eines Doppelkegels an. Vom Durchmesser der Eintrittspupille an der Frontlinse läuft er auf einen Punkt – und damit die maximale Auflösung – in der fokussierten Entfernung zu, um sich dahinter wieder zu verbreitern:
Die Berechnung der Auflösung in einer bestimmten Entfernung ergibt sich aus einem simplen Dreisatz. Wenn Sie beispielsweise ein 50-mm-Objektiv auf Blende 2,8 abblenden, misst die Eintrittspupille 50 mm / 2,8 = 17,9 mm. Bei einer Fokussierung auf 3 Meter ist die Auflösung in diesen 3 Metern maximal; der Doppelkegel des Abtaststrahls läuft dort zu einem Punkt zusammen. In 2 Metern Entfernung, also 1 Meter vor der fokussierten Entfernung, liegt die Auflösung bei 1/3 × 17,9 mm = 6,0 mm.
Hinter der fokussierten Entfernung verbreitert sich der gedachte Abtaststrahl wieder und erreicht in der doppelten Distanz erneut den Durchmesser der Eintrittspupille; in der dreifachen Distanz misst er dann schon das Doppelte und so weiter.
Der Ausgangspunkt ist also stets die Eintrittspupille, die man nicht unbedingt aus Brennweite und Blendenwert berechnen muss. Man kann sie auch einfach abschätzen, indem man vorne in das Objektiv schaut, nachdem man bei einer SLR mit der Abblendtaste oder bei einer spiegellosen Kamera durch halbes Durchdrücken des Auslösers auf die gewählte Blende abgeblendet hat.
Mit meinem Schärfentiefenrechner müssen Sie nicht einmal selbst rechnen, denn er verrät neben der klassischen Schärfentiefe auch die Auflösung nach Merklinger – geben Sie einfach die Entfernung an, für die Sie die Auflösung wissen wollen.
Anwendungsfälle
Die Berechnungen mit Harold M. Merklingers Methode sind insbesondere dann nützlich, wenn es weniger um Schärfe als um die Unschärfe geht. Ein klassischer Schärfentiefenrechner gibt an, in welchem Entfernungsbereich das Objektiv scharf abbildet, aber die oft ebenso wichtige Frage, wie unscharf die Abbildung außerhalb der Schärfenzone ist, beantwortet er nicht. Hier bewährt sich dann die Merklinger-Methode.
Wenn Sie beispielsweise mit einem 100-mm-Objektiv eine Person in 2 Meter Entfernung aufnehmen wollen und eine 10 cm große Schrift im 10 Meter entfernten Hintergrund nicht mehr aufgelöst werden soll, muss sich der Abtaststrahl in den 8 Metern zwischen 2 und 10 Meter auf mehr als 10 cm erweitern. Die Eintrittspupille muss daher 2 Meter * 10 cm / 8 Meter = 2,5 cm betragen und Sie müssen die Blende auf mehr als 100 mm / 2,5 cm = 4 öffnen.
Wollen Sie dagegen ein weit entferntes Motiv durch einen Maschendrahtzaun fotografieren – wiederum mit einem 100-mm-Objektiv –, sollten die Maschen unscharf und damit unsichtbar sein. Bei einer Maschenweite von 1 cm wäre eine Eintrittspupille von knapp 2 cm hinreichend, so dass bei Blende 5,6 (100 mm / 5,6 = 1,8 cm) bereits die gewünschte Unschärfe erreicht wird.
Gegenüber den klassischen Schärfentiefenberechnungen ist Merklingers Ansatz pragmatischer. Er kümmert sich nicht um die Bildschärfe als solche, sondern darum, ob bestimmte bildwichtige Details überhaupt aufgelöst werden. Je nach der fotografischen Aufgabenstellung wird jeweils einer der beiden Ansätze zielführender sein, aber sie können sich auch gut ergänzen.