Abode – wohnungslos
mjh, 13. August 2025, 08:00 Uhr
Abode – das Wort ist natürlich ein Anagramm von „Adobe“, aber auch das englische Wort für Wohnsitz oder Aufenthaltsort –, Stuart Semples Crowd-Funding-Projekt einer Alternative zu Adobes Creative-Cloud-Software, wurde jetzt offiziell für tot erklärt. Aber war das Ganze nicht von Anfang an bloß Satire?

Das Abode-Logo war eine Provokation, aber Adobe scheint Stuart Semple nicht so ernstgenommen zu haben, dass sie ihn verklagt hätten.
3031 „Backer“, wie man auf Englisch die Menschen nennt, die Geld in Crowd-Funding-Projekte stecken, hatten Stuart Semple in den letzten zwei Jahren unterstützt; sie hielten Abode offenbar nicht für einen Witz. Das offizielle Entwicklungsziel des Projekts war eine Kollektion von Anwendungen für Macs und PCs, die Adobes Creative Cloud Konkurrenz machen könnte. Statt des ungeliebten Abo-Modells sollte es lebenslange Lizenzen für ein Paket aus den Anwendungen „ONdesign“, „illustrateIT“, „photoPOP“ und „Impress“ geben, die weniger als 150 US-Dollar kosten würden. 181.709 britische Pfund (etwa 210.620 Euro) hatte Semple zur Finanzierung der Softwareentwicklung eingesammelt, im Mittel rund 70 Euro pro Backer, die jetzt verloren sein dürften. Immerhin: Crowd-Funding-Investments sind riskant, aber die möglichen Verluste bleiben meist überschaubar.
Stuart Semple ist ein britischer Künstler, der schon mehrmals mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen hervorgetreten war. So zum Beispiel, nachdem sein – bekannterer und finanziell erfolgreicherer – Künstlerkollege Anish Kapoor 2014 eine Lizenz für Vantablack erworben hatte, um das damals schwärzeste Schwarz der Welt exklusiv in seinen Kunstwerken verwenden zu dürfen. Semple konterte mit dem von ihm vertriebenen „pinkesten Pink der Welt“, das jeder auf seiner Website zum Selbstkostenpreis bestellen konnte – jeder außer Anish Kapoor, dem er sein Pink nicht gönnte, so wie Kapoor anderen Künstlern Vantablack vorenthalten wollte. (Inzwischen gibt es das noch etwas schwärzere Musou Black, was den Wert der Exklusivlizenz geschmälert haben dürfte.) Über eine andere, ähnlich gelagerte Aktion Semples hatte ich vor ein paar Monaten berichtet.

Vier an das Adobe-Vorbild angelehnte Anwendungen sollte das Abode-Paket enthalten.
Das alles erweckte den Anschein von Parodie und Satire, was Stuart Semple auch nicht abstritt; manche würden seine Aktionen auch kindisch nennen. Das Abode-Projekt aber nahmen genügend viele Adobe-Kunden so ernst, dass sie diese Alternative zum Abo-Modell finanziell förderten. Für nur 60 britische Pfund sollten die Backer das ganze Softwarepaket samt lebenslanger Updates zum Sonderpreis bekommen, und für 69 Pfund mehr versprach Semple, noch ein Abode-Hoodie draufzulegen.
Nun ist Stuart Semple Künstler, kein Programmierer, aber irgendjemand musste sich der Herausforderung stellen, seine vollmundige Ankündigung einer „brand new suite of world-class design and photography tools“ einzulösen. Angeblich hätte er ein leidenschaftliches Team von Geeks mit zusammen 90 Jahren Erfahrung in der Softwareentwicklung zusammengestellt, die seine Version verwirklichen würden. Ein Kern der Software existiere bereits („We already have the backbone of most of the main functionality here“) und im Laufe des Jahres 2024 würden die ersten Beta-Versionen verfügbar werden; die allgemeine Verfügbarkeit der finalen Version war für 2025 avisiert.
Es kam dann allerdings anders. Das fabelhafte Entwicklerteam löste sich 2024 auf – wenn es denn jemals existiert hatte –, aber Semple fand nach eigener Aussage Ersatz und seine drei neuen Entwickler machten angeblich Fortschritte. Noch im Juni dieses Jahres verkündete Semple, die Software würde bereits laufen und benötige nur noch etwas Politur, bevor man eine Beta-Version veröffentlichen könne. Das Team hatte Ende letzten Jahres erneut gewechselt; es gab nun nur noch eine einzige, nach seinen Worten „brillante“ Entwicklerin namens Muriel, von der er sich große Dinge versprach.
Am letzten Sonntag kam dann – nicht wirklich überraschend – das endgültige Aus: Muriel hätte die zugesagte funktionsfähige Beta-Version nie geliefert, aber immer mehr Geld gefordert, schrieb Stuart Semple auf Kickstarter, und nachdem er auch eigenes Geld in das Projekt gesteckt hätte, müsse er nun einen Schlussstrich ziehen. In einer hitzigen Debatte auf Reddit beschuldigten sich Semple und Muriel gegenseitig, für das Scheitern verantwortlich zu sein. Wer hier recht hat, lässt sich naturgemäß schwer einschätzen, aber es ist offensichtlich, dass Semple grundlos optimistisch und wohl nicht ganz ehrlich gewesen war, denn die vermeldeten Projektfortschritte hatte es offenbar nie gegeben. Er musste jetzt eingestehen, zu keinem Zeitpunkt eine funktionsfähige Software gesehen zu haben: „we have seen no working software at all“. Zum Schluss schien es ohnehin nur noch um den Photoshop-Ersatz „photoPOP“ gegangen zu sein; von den übrigen drei geplanten Anwendungen war keine Rede mehr. Was immer die beiden ersten Entwicklerteams produziert haben, scheint auch nicht fassbar zu sein, wobei Muriel die Existenz dieser Entwickler in Zweifel zieht: „I’ve seen no evidence of a previous developer“. Aber wofür wurde dann das Geld der Backer ausgegeben?
Im Rückblick muss man sagen, dass sich Stuart Semple mit seinem Projekt – geht man zu seinen Gunsten davon aus, dass es überhaupt jemals ernstgemeint war – übernommen hatte. Seine Vision ging auch nie darüber hinaus, den „corporate overlords“ den Stinkefinger zu zeigen. Bloße Aufsässigkeit gegen „die da oben“ ersetzt aber noch kein ausgearbeitetes Konzept. Eine Idee, was Abode über eine funktionale Kopie der Creative-Cloud-Anwendungen hinaus leisten sollte, scheint er nie entwickelt zu haben. Er hatte auch kein zu Ende gedachtes Geschäftsmodell, denn wer lebenslange Lizenzen und lebenslange Updates zu einem Kampfpreis verkauft, muss ständig neue Kunden gewinnen, um die Weiterentwicklung zu finanzieren. Das kommt einem Schneeballsystem nahe und wird zwangsläufig scheitern, sobald der Markt gesättigt ist. Kostenpflichtige Upgrades und Abo-Modelle sind nicht einfach Schikane, sondern sollen mit regelmäßigen Einnahmen die Nachhaltigkeit eines kontinuierlich weiterentwickelten Softwareprodukts sichern.
Wobei das nicht heißen soll, dass man an den etablierten Platzhirschen im Softwaremarkt nicht vorbei kommen könnte. Mit LibreOffice, dem Nachfolger von OpenOffice, gibt es beispielsweise eine kostenlose und quelloffene Alternative zu Microsofts Office-Paket, die sich einen respektablen Marktanteil erkämpft hat. Hinter LibreOffice stehen allerdings eine gemeinnützige Stiftung und eine große Zahl vorwiegend ehrenamtlicher Entwickler, womit dessen Weiterentwicklung eine stabile Basis hat. Die Entwicklung musste auch nicht von Null starten, denn sie konnte auf das ursprünglich kommerziell vermarktete StarOffice aufsetzen.
Man sollte auch nicht unterschätzen, was kleine Entwicklerteams oder selbst Ein-Mann- oder Ein-Frau-Softwarehersteller leisten können. Erfahrungsgemäß steigt der Output keineswegs proportional mit der Zahl der für ein Projekt bereitgestellten Entwickler. Im Software-Engineering kennt man auch das Paradoxon, dass ein laufendes Projekt, das bereits hinter dem Zeitplan ist und dem man daher zusätzliche Entwickler zuteilt, daraufhin noch später abgeschlossen wird. Entscheidend ist es dagegen, sich realistische (Teil-) Ziele zu setzen, statt mit einem grandiosen Plan das Scheitern vorzuprogrammieren. Wer ein Software-Start-up auf die Beine stellen will, muss dafür nicht selbst programmieren können, sollte aber Erfahrungen in der Koordination von Entwicklungsprojekten mitbringen und idealerweise ein Geek-Flüsterer sein. Stuart Semple dagegen scheint in fast jeder Hinsicht der falsche Mann dafür gewesen zu sein, sein selbstgesetztes Ziel auch zu erreichen.