Leica M EV1: Wenig Neues für sehr viel Geld
mjh, 29. Oktober 2025, 08:00 Uhr
Sie haben Christoph Künnes Kommentar zu Leicas M mit elektronischem Sucher gelesen und sind sich immer noch unsicher, ob die M EV1 die richtige Kamera für Sie ist? Sie wollen lieber noch eine zweite Meinung einholen? Bitteschön …

Vielleicht kennen Sie den bösen Witz von dem Arzt, der seinem Patienten eröffnet, er hätte starkes Übergewicht und müsse künftig eine strenge Diät einhalten. „Vorher möchte ich aber noch eine zweite Meinung hören“, protestiert der Patient, und der Arzt kann damit dienen: „Hässlich sind Sie auch!“
Ich will mit meiner Meinung ebensowenig wie jener Arzt hinter dem Berg halten: Ich halte das Konzept der M EV1 für mutlos, lieblos und ideenlos; ihr Preis ist ein schlechterer Witz als der eben Erzählte. Wenn Sie wissen wollen, warum, müssen Sie diesen Artikel allerdings bis zu Ende lesen.
M ohne Messsucher? Ein alter Hut!
Zunächst einmal sollte ich zwei Irrtümer aufklären. So ist die M EV1 keineswegs die erste M ohne den Messsucher, dem sie ihren Namen verdankt, denn eine messsucherlose M gab es schon vor 66 Jahren. Rekapitulieren wir kurz die M-Geschichte: 1954 brachte Leica (damals noch „Leitz“) seine erste Kamera mit einem gekoppelten Messsucher auf den Markt, und ihr Name war … genau! … M3. Zum neuen M-System gehörten Objektive, die ein Bajonett statt des bis dahin verwendeten M39-Schraubgewindes mit der Kamera verband und deren Fokussierung auf mechanischem Wege mit dem Enfernungsmesser in der Kamera gekoppelt war. Diese Kopplung war nicht neu, aber erst in der M3 waren Sucher und Entfernungsmesser zu einem optischen System fusioniert.

1958 stellte Leica der M3 die leicht vereinfachte und etwas preisgünstigere M2 an die Seite, und 1959 das noch weiter abgespeckte Einsteigermodell M1. Dessen Sucher hatte zwar einen Parallaxausgleich, aber ihm fehlte das eingespiegelte Mischbild eines mit der Fokussierung gekoppelten Entfernungsmessers. Ohne den Messsucher musste man die Entfernung zum Motiv schätzen oder einen externen Entfernungsmesser nutzen, was die Scharfeinstellung unpräziser beziehungsweise weniger komfortabel machte. Aber der Messsucher war nun mal die komplexeste und in der Produktion kostenintensivste Komponente der Kamera, und zugunsten eines niedrigeren Preises musste er geopfert werden. 1964 wurde die M1 von der MD abgelöst, die nicht einmal mehr einen Sucher hatte.
M mit elektronischem Sucher? Gibt’s längst!

Die M EV1 ist auch nicht die erste digitale M, die eine Fokussierung mit einem elektronischen Sucher erlaubt. Das war vielmehr die vor fast 13 Jahren eingeführte M (Typ 240). Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Ende 2012 mit meinem LFI-Kollegen Holger Sparr nach Solms fuhr, wo vor der Rückkehr nach Wetzlar das Leica-Hauptquartier stand. Dort konnten wir für ein paar Stunden ein Vorserienmodell der M (Typ 240) ausprobieren, die dank des Wechsels vom CCD der M9 zu einem CMOS-Sensor eine Live-View unterstützte, auf dem rückwärtigen Display oder in dem optionalen elektronischen Aufstecksucher EVF 2. Wir stellten schnell fest, dass sich lichtstarke Objektive wie das Noctilux-M 1:0,95/50 Asph. mit ihrer rasierklingendünnen Schärfenzone auf diese Weise bequemer als mit dem optischen Messsucher fokussieren ließen. Dabei half bereits eine optionale Vergrößerung des Sucherbilds und/oder eine Hervorhebung scharfer Bildbereiche durch ein farbiges Focus Peaking, so dass die M EV1 hier nichts Neues bringt.

Der elektronische Sucher erschloss der M auch die Welt der Objektive jenseits des Messsuchersystems. Der Produktmanager Stefan Daniel montierte die neue M kurzerhand an ein 1600-mm-Teleobjektiv für Leicas R-System (der Prototyp eines Einzelstücks, dessen Entwicklung ein Prinz aus Katar in Auftrag gegeben hatte) und führte uns vor, wie es sich anhand des elektronischen Sucherbilds fokussieren ließ. Mich inspirierte das zu einem Artikel über „Extreme Adapting“ in der LFI 2/2014 – nur so zum Spaß adaptierte ich ein 500-mm-Tele, Tilt/Shift- und Fisheye-Objektive an die M, was bis dahin nur mit dem vorgeschnallten Spiegelreflexsucher Visoflex möglich gewesen wäre. Einen elektronischen Aufstecksucher – in Anspielung an die Behelfslösung von einst heißt er Visoflex 2 – gibt es bis heute; er ist mit der aktuellen M11 und eingeschränkt auch mit der M10 kompatibel.
Das elektronische Sucherbild nutzte Leica auch für die Weiterentwicklung des Messsuchers. Gegenüber dem in der M9 verbauten Sucher wurde er bis heute zweimal runderneuert, damit seine Genauigkeit der elektronischen Alternative nicht nachstand und auch der mittlerweile auf 60 Megapixel gestiegenen Sensorauflösung gerecht wurde. Seit der M (Typ 240) muss er im Werk und vom Kundendienst nicht mehr aufwendig per Hand kalibriert werden; stattdessen wird das Live-View-Bild als Referenz genutzt und der Messsucher auf dieser Basis automatisch justiert (was aber immer noch dem Kundendienst überlassen werden sollte).
Und nun … Trommelwirbel … die M EV1
In der M EV1 ist der elektronische Sucher in die Kamera integriert, und das ist auch schon fast die einzige Neuerung, die das neue Modell bringt. Die Sucherauflösung ist von 3,68 auf 5,76 Millionen Bildpunkte gewachsen; dafür lässt sich das Okular nicht wie das des Visoflex 2 um bis zu 90 Grad nach oben kippen. Der Verstellbereich der Dioptrienkorrektur (-4 bis +2 statt -4 bis +3 Dioptrien) ist zudem etwas kleiner. Der elektronische Sucher benötigt zwar weniger Platz als der Messsucher, dessen Platz er okkupiert; dennoch ist die Kamera nicht kleiner geworden. Sie hat auch keinen größeren Akku bekommen, obwohl eine Batterieladung nur noch für 237 statt 700 Aufnahmen (jeweils nach CIPA-Standard gemessen) reicht. Und während mit dem optischen Messsucher, einem hochpräzisen, aus mehr als hundert Teilen zusammengesetzten Wunderwerk der Feinmechanik, das teuerste Bauteil der Kamera weggefallen ist, hat Leica deren Preis um gerade mal 9 Prozent reduziert – 7950 Euro muss man für die M EV1 zahlen, statt 8750 Euro für die M11.
Zur besseren Einordnung: Für ungefähr dasselbe Geld (7999 Euro) bekäme man eine GFX100 II, Fujis Mittelformat-Spitzenmodell, das der M EV1 in allen Punkten erdrückend überlegen ist. Die GFX100S II für 5499 Euro wäre noch besser vergleichbar und ließe die M EV1 ebenfalls hinter sich, auch mit ihrem größeren und dank eines größeren Augenabstands bequemer zu betrachtenden Sucherbild.

Aber man braucht gar nicht zu den Mitbewerbern zu schielen, denn in Leicas eigenem Produktportfolio findet man die SL3 für 6800 Euro, die zeigt, dass man es auch in Wetzlar besser machen könnte, wenn man nur wollte. Sucher und Sensor sind ähnlich, aber die SL3 hat der M EV1 einen eingebauten Bildstabilisator für fünf Achsen voraus, ein kippbares Display, einen zweiten Speicherkartenschacht für schnelle CFexpress-Typ-B-Karten (um an den SDXC-Kartenschacht der M EV1 heranzukommen, muss man erst den Akku herausnehmen, wohl weil der Designer keine separate Klappe dafür wollte), einen mehr als doppelt so großen Pufferspeicher und ein witterungsgeschütztes Gehäuse. Leica hat immer betont, dass eine SL die zweitbeste Kamera für M-Objektive sei, weil ihr besonders dünner Sensorstapel an deren Eigenheiten angepasst sei – bei manchen Weitwinkeln treffen die Lichtstrahlen in einem sehr flachen Winkel auf den Randbereich des Sensors, was zwischen den Schichten des dickeren Sensorstapel beispielsweise einer Sony Alpha zu störenden Reflexionen führen kann.
Nun ist die SL3 eine spiegellose Kamera im SLR-Formfaktor, und Messsucher-Fans werden einwenden, dass sie nun einmal die M-typische Formgebung schätzen und einen nach links gerückten Suchereinblick bevorzugen, dank dem man die Nase nicht auf dem Display plattdrückt. Aber nichts hätte Leica daran gehindert, eine Ausstattung auf dem Niveau der SL3 in ein Gehäuse im Messsucher-Formfaktor zu packen, und das zu einem niedrigeren Preis. Zugunsten geringerer Abmessungen hätten sie auf Features wie das Statusdisplay und die HDMI-Buchse der SL3 verzichten können; ein Videomodus wird den M-Modellen ja sowieso vorenthalten.
Es tut mir leid, aber wenn einem zum Entwurf eines neuen Modells nicht mehr einfällt, als das teuerste Bauelement durch ein kleineres und billigeres zu ersetzen, die Kamera aber keinen Millimeter kleiner und kaum preisgünstiger zu machen, dann kann ich nur vom Kauf abraten.